Frau Tod hat ihn abgeholt - José Saramago

"Meine Lebensuhr wäre fast stehen geblieben" bekannte Saramago vor zwei Jahren, im Rückblick auf seinen prekären körperlichen Zustand zum Jahreswechsel 2007/2008. Jetzt ist sie wirklich stehen geblieben. Für mich befand sich Saramago seit 2004 immer stärker in einem Stadium der Prä-Posthumität. Gestern hat ihn Frau Tod wirklich abgeholt. An diesem Ort über Saramago zu schreiben, ist vollauf gerechtfertigt. Die Beziehung Saramagos zur deutschsprachigen Welt ist eine besondere, zumindest seitdem er 1955 Erich Maria Remarque und 1956/57 die bekannnte 08/15 Trilogie von Hans Hellmut Kirst aus dem Französischen ins Portugiesische übersetzt hatte. Später finden sich in seinen Romanen immer wieder Figurationen der 'deutschen Identität' - Machthaber oder Handlanger in Machtstrukturen, zum Beispiel die deutschen Latifundienbesitzer in Levantado do Chão (1980). 1985 erschien als Hoffnung im Alentejo gerade dieser Roman als erster in deutscher Übersetzung - damals noch im Aufbau Verlag der DDR. Es war 1978 in einem Ostberliner Hotel, als ihm - erschöpft auf dem Bett liegend - die Idee O ano da morte de Ricardo Reis zu schreiben, "von der Decke fiel". In diesem Roman tauchen auch ein paar Dialogsequenzen auf Deutsch - in lautlicher Umschrift - auf (ich glaube, die einzigen): Kameramänner, die im Dienste der Propaganda des Estado Novo 1936 A Revolução Nacional drehten. 1980 erscheint seine Übersetzung (wiederum aus dem Französischen) von Otto Zierers Deutscher Geschichte. Die sicherlich stärkste Beziehung, was die Textproduktion betrifft, ist das Libretto In Nomine Dei zur Oper Divara - Wasser und Blut (am 31. Oktober 1993 in Münster uraufgeführt), die die genaue Recherche eines dunklen Kapitels der Stadtgeschichte als 'Jerusalem' der Anabaptisten voraussetzte. Und sein vorletztes Buch A Viagem do Elefante (2008) geht auf einen Besuch in Salzburg am 23.November 1999 zurück, als er im Gasthaus zum Elefanten von der Geschichte erfuhr. Saramago war viel in Deutschland und Österreich unterwegs. Alle seine Romane und vieles mehr wurden ins Deutsche übersetzt. Nach Andreas Klotsch und Ray-Güde Mertin wurde Marianne Gareis, die auch einige Jahre bei uns in Braga gelebt hat, zur Saramago-Übersetzerin des späten Romanwerkes ab A Caverna (Das Zentrum). Als die Entscheidung der Schwedischen Akademie am 8.Oktober 1998 bekannt wurde, hatte er gerade die Frankfurter Buchmesse verlassen: man holte ihn zurück und feierte ihn auf einer improvisierten Pressekonferenz als den ersten (und bisher einzigen) Nobelpreisträger portugiesischer Sprache. Das Foto, in der er der glücklichen Ray-Güde Mertin (2007 verstorben), seiner internationalen Literaturagentin, inmitten des Gedränges die Hand küsst, ging um die Welt (leider habe ich nur das folgende Foto von der Buchmesse zur Hand).

Die Rezeption Saramagos im deutschsprachigen Raum kann sicherlich im internationalen Vergleich als privilegiert bezeichnet werden, was die Übersetzung, Medien und Presse betrifft: Saramago ist bekannt. Sein Tod hat sofort zahlreiche Nachrufe ausgelöst und beispielsweise den Spiegel dazu bewegt, zusätzlich ein Dossier zusammen zu stellen. Im akademischen Bereich gibt es seit 1980 eine Reihe von Studien, die sich mit Saramagos Werk beschäftigen. Diese Aktivität ist leider kaum über den deutschsprachigen Raum hinaus bekannt geworden. Ich selbst bin durch ein Proseminar zu Memorial do Convento von meinem Lektor José Pinto Novais 1983 dazu verleitet worden, Saramago zu lesen. Ihm habe ich daher auch die 1992 veröffentlichte Studie zu diesem Roman gewidmet. Dieser sollten über die Jahre hinweg viele weitere folgen. 1996 hatte ich Gelegenheit, ein paar Tage mit José Saramago und seiner Frau Pilar del Río zu verbringen, als am 19.-20. September in Amherst (Massachusetts) das erste internationale Kolloquium zu Saramago stattfand und wir danach im Greyhound-Bus nach New York fuhren (siehe Cadernos de Lanzarote. Diário IV, Seite 221-23). Seitdem sind wir sporadisch in Kontakt geblieben. Ich bin kein absoluter Saramago-Fan geworden, aber doch so weit vertraut, dass ich viele Vorurteile, die so leichtfertig über sein Werk und seine Person in den Medien und in der Blogsphäre verbreitet werden, nicht teilen kann. Ebensowenig kann ich mit der Heuchelei des Staatsbegräbnisses anfangen, bei dem Persönlichkeiten am Toten vorbei defilieren, die dem Lebenden nie die Hand gegeben hätten. An dieser Entwicklung ist Saramago selbst nicht ganz unschuldig, hat er sich doch immer dem Medienspektakel ausgesetzt.

Ein durchaus vieldeutiges, ja ambivalentes Porträt habe ich in "Zur Einführung - Augenblicke" in der zweiten Auflage meines Buches Saramago lesen (Berlin, Edition tranvía 2009) zu zeichnen versucht. Das Ganze soll eine Art Handbuch sein. Gegenüber der Erstausgabe 1998 wurde es stark aktualisiert und erweitert. Der 20-seitige biographische Abriss klingt dabei in denselben Worten Saramagos vom Oktober 2008 aus, mit denen ich diesen Blog-Text begonnen habe: "Meine Lebensuhr wäre fast stehen geblieben." Die Wirkung seines Werkes wird sicherlich nicht stehen bleiben.

Auf Englisch:

Homage to José Saramago, von Christoper Rollason

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